«Behold, we know not anything;
I can but trust that good shall fall
At last ‒ far off ‒ at last, to all,
And every winter change to spring.»
(Aus «In Memoriam» 1850, von Alfred Tennyson; London, 1878)

«Sie zieht die kalten Füsschen unter den Rock, um sie zu wärmen. Geheizt wird erst am Abend wieder, wenn die Patin von der Arbeit zurückkommen wird. Es ist still in der Wohnung, ganz still. Dusi bettet den Kopf auf das Kissen und versucht, noch einmal einzudösen. Im Schlaf kommen jeweils die freundlichen Träume. Wie feine Fäden ziehen die Erinnerungen Spuren hinter den Augenlidern.»

«Unvermittelt drängt sich das Bild ihres bescheidenen Hauses in Ungarn vor ihr inneres Auge. Es ist kaum vorstellbar, wie sie innerhalb von vierzehn Jahren von einer einfachen Bauernkate, die wahrscheinlich in diesem respektablen Schlafzimmer Platz fände, in ein französisches Landschloss geraten ist. Sie schliesst die Augen. Auf einmal fühlt sie sich ganz leicht und sinkt mit dem Gefühl, ins Bodenlose zu stürzen, in den Schlaf.»

«Nach der ersten Aufregung über die Verlobung fühlt sich Dusi bald einmal in einem System eingeschlossen. Die Mauern scheinen sich um sie herum zu schliessen. Es kommt ihr vor, als ob der Weg zurück verbaut wäre. Für ihre freiheitsliebende und gleichzeitig sensible Seele ist der Zustand kaum auszuhalten.»

My life is full of weary days,
But good things have not kept aloof,
Nor wandered into other ways:
I have not lack’d thy mild reproof,
Nor golden largess of thy praise.»
(Aus «The Poetical Works», 1833, von Alfred Tennyson; London, 1878)

«Sie fühlt wieder das alte Klischee hochkommen, das ihr Minderwertigkeitskomplexe einimpfen will: Nur ein armes Waisenmädchen wie sie konnte man so beschämen. So eine würde ja nie den Mut haben, sich gegen die einflussreiche Familie zu wehren! Sie dürfte dankbar sein, in einem schönen Haus zu leben und einen Platz in der Gesellschaft zu haben. Es ist eine schreiende Ungerechtigkeit, wie hier über ihr Leben verfügt wurde! Die Ungeheuerlichkeit ihrer Lage entsetzt sie, und Bitterkeit droht sie zu überwältigen.»

«Mit Bedacht, damit sich keine Splitter ablösen, steckt Dusi den Schlüssel in das Emailzifferblatt und zieht das Uhrwerk und das Schlagwerk auf. Dann justiert sie die Zeiger nach, wobei sie geduldig abwarten muss, bis jede Viertelstunde schlägt. Dann nickt sie der Uhr zu. Auch sie, Dusi, hat ihr persönliches Erdbeben hinter sich und wird versuchen, aus den Trümmern von Neuem etwas Schönes aufzubauen.»

«Es bedeutet unaufhörlich einen riesigen Aufwand, den ganzen anspruchsvollen Betrieb am Laufen zu halten. Hin und wieder könnte sie allerdings aus der Haut fahren und sie muss sich stark zusammennehmen. Dann kneift sie die Lippen zusammen und stürzt sich in die Arbeit. Ihr Temperament brodelt öfter unter der mühsam aufrechterhaltenen Fassade von Beherrschtheit und Bedacht sowie der unvermeidlichen Vorbildfunktion.»

«Tears, idle tears, I know not what they mean,
Tears from the depth of some divine despair
Rise in the heart, and gather to the eyes,
In looking on the happy Autumn-fields,
And thinking of the days that are no more.»
(Aus «The Princess; A Medley», 1862, von Alfred Tennyson; London, 1878)

«Beim Lesen der kunstvoll gestalteten Verse entstehen wundersame Bilder in Dusis Geist. Eine sanfte Ruhe legt sich dann auf ihr zeitweise ungeduldiges Wesen. Die Schönheit der Sprachschöpfungen belebt ihr Gemüt mit neuer Frische. Sie lässt die Laute nachhallen und ihre Gedanken fliessen. Sie schätzt ihr Umfeld, wo Kultur und Bildung hochgehalten werden, sehr. Die Feinheiten der Herzensbildung gewichtet sie aber noch höher. Ihr inneres Feuer wird durch die Lektüre wieder angefacht. Das Grüblerische verschwindet und gibt einem neuen Enthusiasmus und Frohsinn Raum.»

«Ein mächtiges Sehnen erfüllt ihr Herz. Sie fühlt sich im Innersten getroffen. Mit bebenden Händen und Tränen in den Augen macht sie sich an den Abwasch. Das warme Wasser beruhigt ihren Aufruhr etwas und die monotone Tätigkeit hilft ihr, wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Sie atmet ein wenig freier.»

«Und was für ein Beispiel gäbe sie ihren Kindern, wenn sie die Familie im Stich liesse? Der nächste Gedanke ist noch erschreckender: Was für ein Beispiel gibt sie ihren Kindern, wenn sie immer alles erträgt? Kann eine flügellahme und ergebene Duckmäuserin ein Vorbild sein? Diese Vorstellung passt ebensowenig in ihr Selbstbild. Dusi will gestalten und ihr Leben in die Hände nehmen. In ihr erwacht der alte Trotz, sich nicht unterkriegen zu lassen. Nicht von Menschen, nicht von Umständen und auch nicht von Gefühlen.»

«Am Friedhofstor parkiert Lajos seinen Wagen, und sie gehen zu Fuss die langen Gräberreihen ab. Der Kies knirscht unter ihren Füssen. Ein paar Vögel flattern aus einem Gebüsch auf. Sonst ist es sehr still. Keiner spricht. Kläri bildet das Schlusslicht, ihr scheint die ganze Unternehmung zuwider zu sein. Marta hat im älteren Teil des Friedhofs ein paar halb verfallene Grabsteine erblickt und bückt sich, um die eingravierten Namen zu entziffern. Mit leiser Stimme ruft sie die anderen herbei. Da sind sie, die Gräber von Dusis und Kläris Eltern!»

«In der Zeit, die sie als kleine Mädchen in der ungarischen Hauptstadt verbracht hatten, beschränkte sich ihr Lebensraum auf eine düstere Wohnung. Nun spüren sie etwas von der Grösse dieser Nation. Sie sind stolz, dieses Land und seine Kultur im Blut zu haben.»

«Sie lauscht dem Geplapper der badenden Kinder um sie herum. Die vertrauten und doch heute fremden Laute rühren in ihrem Herzen etwas an. So hat sie auch einmal gesprochen, denkt sie wehmütig. Wie ist es möglich, dass ein Mensch die Muttersprache verlieren kann? Warum kann die erste Liebessprache, die sein Sein geprägt hat und die er als Kleinkind gesprochen hat, verschüttet werden? Sie fühlt, wie ein Teil ihrer Identität hier im Land ihrer Kindheit geblieben ist.»

«Beat, happy stars, timing with things below,
Beat with my heart more blest than heart can tell,
Blest, but for some dark undercurrent woe
That seems to draw – but it shall not be so:
Let it all be well, be well.»
(Aus «Maud», 1855, von Alfred Tennyson; London 1878)

«Die Musiker stimmen in einer vertrauten Kakophonie ihre Instrumente. Sie hören auf das A der ersten Geigerin. Dann intoniert der Cembalist ein paar Läufe. Dazwischen hört man ein Fagott. Dusi versucht, die unterschiedlichen Instrumente herauszuhören. Von irgendwo her ertönt eine Oboe mit einem hohen, langgezogenen, fast klagenden Ton, der anschwillt und dann in einem weichen Vibrato verhallt.»

«In jeder noch so herausfordernden Situation hat sie jedoch versucht, ihr Bestes zu geben, lebendig und gestaltend zu bleiben und damit die Dramaturgie ihres Lebens zu beeinflussen. Auch eine unvollendete Symphonie ist ein Kunstwerk.»

«Dusi sucht die Notenhefte heraus. Da sind sie, all die ehrwürdigen und geliebten alten Weihnachtslieder. Die Einbände sind zum Teil schadhaft. Einzelne fleckige Notenblätter segeln zu Boden. Eselsohren zieren die Ecken, und die Seitenränder sind allesamt ziemlich brüchig. Ein kleines Lächeln überzieht Dusis Gesicht als sie die handschriftlichen Notizen, Fingersatzeinträge und auf den ersten Seiten die Namen der früheren Spielerinnen und Spieler, alles Familienmitglieder, liest.»

«Warum nur hat sie, Dusi, die lauernde Bedrohung nicht wahrgenommen? Hat sie zu wenig zugehört, weil sie mit eigenen Sorgen belastet war? Trotz ihrer Nähe, all die Jahre hindurch, war ihr ein Teil des verzagten Wesens ihrer Schwester immer ein Rätsel geblieben. Nun muss sie sie endgültig loslassen. Zurück bleibt grosses Unverständnis, seltener ein leichter Groll, weil Dusi sich übergangen und zurückgestossen fühlt, und eine tiefe Trauer.»